(E-E) Ev.g.e.n.i.j ..K.o.z.l.o.     Berlin                                                  


      Leningrad 1980s

• Sergey Kuryokhin and Pop Mekhanika – all documents
• Сергей Курёхин и Поп-механика – все документы

Hans Kumpf: My Trips to Russia

1980 - 1984


first published in
Russian Jazz: New Identity. Edited by Leo Feigin. London: Quartet Books, 1986
Translated from the German, by Christa Kuch and Martin Cooper. Courtesy of the author.

• page 1 • Introductory Remarks / Preface
Leningrad (May/June 1980) Contemporary Music Club

• page 2 • Leningrad (December 1980/January 1981)
LP Recording "Jam Session Leningrad"

• page 3 • Leningrad/Moscow (June 1981)
John Fischer and Sergey Kuryokhin; LP Recording "Jam Session Moscow”

• page 4 • Leningrad / August 1983
Sergey Kuryokhin and Friends: Leningrad Collective Improvisations (english)

• page 5 • Leningrad / August 1983
Sergey Kuryokhin and Friends: Leningrad Collective Improvisations (deutsch)

• page 6 • Moscow, the Baltic States and Leningrad (April 1984)
Pop Mekhanika; LP Recording “On a Baltic Trip”

• page 7 • Documents
Kevin Whitehead: Hans Kumpf and Anatolij Vapirow Trio – Jam Session Leningrad

• page 8 • Documents
Russian Jazz Lives! Milo Fine about Hans Kumpf's recordings (1986)

• Hans Kumpf and Sergey Kuryokhin: read the article by Hannelore Fobo (Sept. 2017)

• page 5 • Leningrad / August 1983
Sergey Kuryokhin and Friends: Leningrad Collective Improvisations (deutsch)

„Der Rock 'n' Roll ist tot, aber ich nicht"

Eine Reise in den musikalischen Untergrund der Sowjetunion

von Hans Kumpf


Erstveröffentlichung: Stuttgarter Nachrichten, 26. 8. 1983
veröffentlicht auf www.e-e.eu mit freundlicher Genehmigung des Autors (Juli 2017)


Vorwort:

Im August 1983 traf sich der deutsche Klarinettist und Journalist Hans Kumpf zu einer Jazz- und Punk-Session im Leningrader Club 81 mit russischen Musikern und Künstlern: Vladimir Boluchevsky (Saxophon), Igor Butman (Saxophon), Arkady Dragomeshenko (Poesie), Vyacheslav Gayvoronsky (Flügelhorn), Boris Grebenshikov (Guitarre und "kleine" Instrumente), Alexander Kondrashkin (Schlagzeug), Sergey Kuryokhin (Saxophon), Sergey Letov (Saxophon, Bassklarinette), Timur Novikov (Utiugon) and Ivan Sotnikov (Utiugon). Die meisten dieser Musiker und Künstler beteiligten sich in der Folge an Sergey Kuryokhins revolutionären ‘Pop Mechanika’-Konzerten, die ab 1984 stattfanden und einen immensen Einfluss auf die Leningrader Kulturszene ausübten. siehe Einleitung >>

Während der Session präsentierten Ivan Sotnikov und Timur Novikov ihr mittlerweile berühmtes ‘Utiugon’, welches Timur Noikov folgendermaßen beschrieb: Das Utiugon ist ein lauterzeugender Apparat. Von einer Tischplatte hingen Bügeleisen an speziellen Saiten, und die Bügeleisen schwangen frei hin und her und berührten sich dabei. Man musste diese Vorrichtung nur einmal in Schwingung versetzen, und dann erzeugte sie etwa eine halbe Stunde lang sehr seltsame Töne, die elektrisch verstärkt wurden. (Timur Novikov, Moscow Museum of Modern Art, Katalog, 2013, S. 121. Übersetzung H. Fobo) mehr >>

Die Fotos auf dieser Seite stammen von Hans Kumpf und (E-E) Evgenij Kozlov, der die Session dokumentierte.

H. Fobo, July 2017



Auch in der UdSSR gehen Rockmusiker mit der Zeit: Im Untergrund wird mit den Stilmitteln von Punk und New Wave experimentiert.

„Null-Bocker" in der UdSSR spielen New Wave und Punk mit hausgemachten Mitteln

Daß zeitgenössische Musik und Jazz, auch der avantgardistische, in der Sowjetunion inzwischen offiziell anerkannt sind, ist inzwischen bekannt. Aber wie verhält es sich mit Punk und New Wave? Unser Mitarbeiter Hans Kumpf besuchte die UdSSR, spielte (als Klarinettist) mit dortigen Musikern zusammen - und lernte Vertreter des Leningrader Rock-Untergrunds musikalisch und menschlich kennen.

  Ivan Sotnikov, Timur Novikov, Utyugon Foto: Hans Kumpf, 1983

Ivan Sotnikov, Timur Novikov, Utiugon / Утюгон
Club 81, Leningrad 1983 • Foto: Hans Kumpf, 1983

Zwei schlaksige Gestalten, geschniegelt mit Anzug und Weste, schleppen einen alten Holztisch heran. Auf dem umgedrehten Möbelstück transportieren sie einen Verstärker plus Lautsprecher und Kleinmaterialien. Im "LTO-81 Club", dem provisorischen Domizil von unorthodoxen Literaten Leningrads, soll eine Session steigen. Timur Novikov und Ivan Sotnikov stellen in dem miefigen tapetenlosen Raum den Tisch auf die Füße.

Alte gußeiserne Bügeleisen werden daran an Schnüren aufgehängt, auf der anderen Seite werden Metallstangen angebracht, und in der Tischkante steckt ein Messer. Ein Kontaktmikrophon schafft die Verbindung zur Verstärkeranlage. Aus dem Lautsprecher schallen dann dunkle, kreischende und schnarrende Klangwolken, wenn die diversen Metalle in Schwingungen versetzt werden. Die zwei „Zero-Musicians", wie sie von den Kollegen genannt werden, betreiben eine Negation von melodischen und rhythmischen Konventionen. Doch bei aller Protesthaftigkeit beweisen sie Sinn für eine musikalische Kommunikation und für sensible Interaktionen. Nach dem Konzert gehen die beiden „Null-Bocker" russischer Provenienz wieder nach Hause, und niemand weiß, wo sie wohnen und wann sie einmal wieder auftauchen. Und sie selbst wissen sicher auch nicht, daß im Westen mit derartigen Metallobjekten ebenfalls experimentiert wird, allerdings mit besseren elektronischen Hilfsmitteln. Bei den letztjährigen Donaueschinger Musiktagen inszenierte beispielsweise Mesias Maiguashca ein entsprechendes Spektakel.

Alexander Kondrashkin, Schlagzeug Club 81, Leningrad 1983 • Foto: Hans Kumpf

Alexander Kondrashkin, Schlagzeug
Club 81, Leningrad 1983 • Foto: Hans Kumpf

In einer Ecke hat Alexander Kondrashkin seine Schlaginstrumente aufgebaut. Not macht erfinderisch: Konservenbüchsen tun's auch. Kondrashkin erweist sich in dem improvisierten Konzert gleichfalls als aufmerksamer Partner. Schon oft hat er mit den einheimischen Free Jazzern gejamt, aber „regulär" ist er Mitglied des Rock-Septetts „Stranniye Igry", übersetzt „Fremde Spiele". Nur durch Auftritte, auch in Moskau, und durch Cassetten-Kopien ist die Gruppe ihren Fans bekannt: New Wave mit maschinenhaftem „drive" und repetierenden rhythmischen Staccati. Zu anarchistisch klingt den Kultur-Bürokraten eine solche „live"-Musik in den Ohren. Schöne Melodien und Harmonik in gemächlichem Tempo entwickelt dagegen das Ensemble bei Studioaufnahmen.

Vladimir Boluchevsky, Saxophon (links), Sergey Kuryokhin, Saxophon (rechts) Im Hintergrund links mit Kamera: (E-E) Evgenij Kozlov Club 81, Leningrad 1983 • Foto: Hans Kumpf

Vladimir Boluchevsky, Saxophon (links), Sergey Kuryokhin, Saxophon (rechts)
Im Hintergrund links mit Kamera: (E-E) Evgenij Kozlov
Club 81, Leningrad 1983 • Foto: Hans Kumpf


Bei der für mich organisierten Jam Session in Leningrad sind insgesamt elf Musiker beteiligt, zwei Saxophonisten reisten aus Moskau an. Nach dem ersten Konzertteil, der aus einer Kollektivimprovisation besteht, verabreden wir Duos und Trios. Als erster bittet mich Boris Grebenshikov um einen gemeinsamen Auftritt. Er gilt als die schillerndste Figur bei den progressiven Rock-Musikern in Leningrad. Mit einem Beil hat er sich bewaffnet und zerschlägt musiktheatralisch einen Stuhl, sägt eine Bank an und bearbeitet Glasflaschen: ein Happening der destruktiven Art, wie es vor einem Jahrzehnt auch Wolfgang Dauner praktizieren konnte. Zuvor entlockte Grebenshikov einer Teekanne, Tröten und mittels Bogen einer akustischen Gitarre verschiedene Töne.

Boris Grebenshikov, Ivan Sotnikov, Timur Novikov Club 81, Leningrad 1983 • Foto: (E-E) Evgenij Kozlov

Boris Grebenshikov, Ivan Sotnikov, Timur Novikov
Club 81, Leningrad 1983 • Foto: (E-E) Evgenij Kozlov

Aquarium" nennt er seine Gruppe, Sänger und Gitarrist Boris Grebenshikov versteht sich selbst als Exponent der „Neuen Sowjetischen Welle". Viele der Konzerte enden mit einem Skandal. Ärger gibt es sowieso mit den staatlichen Prüfungskommissionen. Denen werden unanstößige Texte vorgelegt, bei den Auftritten geht es dann jedoch handfester zu. „Wir waren die erste Gruppe in Rußland, die ihre Veröffentlichungen auf Samisdat-Cassetten herausbrachte", sagt Grebenshikov.

Unbekannt, Vladimir Volkov, Sergey Letov, Hans Kumpf, Sergey Kurokhin Club 81, Leningrad 1983 • Foto: (E-E) Evgenij Kozlov

Unbekannt, Vladimir Volkov, Sergey Letov, Hans Kumpf, Sergey Kurokhin
Club 81, Leningrad 1983 • Foto: (E-E) Evgenij Kozlov

Sechs „Langspielplatten" auf MusiCassette habe man inzwischen produziert, jeweils in einer Auflage von einhundert Kopien. Die tatsächliche Auflage ist erheblich höher, weil davon in den verschiedenen Städten wieder weitere Kopien gezogen worden sind. Der Druck der Fans werde allmählich so stark, daß die monopolistische Plattenfirma „Melodija" früher oder später keine andere Möglichkeit habe, als ihn auf Platte herauszubringen. Der 30jährige einstige Mathematikstudent kann. sich auf ein Exempel stützen: Auch „Maschina Wremeni" („Zeitmaschine"), heute die populärste Rock-Band in der UdSSR, war jahrelang im Untergrund aktiv, ehe sie einen Plattenvertrag erhielt.

Sergey Kuryokhin, Boris Grebenshikov Club 81, Leningrad 1983 • Foto: Hans Kumpf

Sergey Kuryokhin, Boris Grebenshikov
Club 81, Leningrad 1983 • Foto: Hans Kumpf

Boris Grebenshchikov übersetzt mir einen Song („Rock'n' Roll mjort"): „Welch nervöse Gesichter/Es ist eine Not. Ich erinnere mich, es war ein Himmel/Ich erinnre mich nicht wo/Wir treffen uns wieder, wir sagen Hallo/Aber irgend etwas stimmt dabei nicht/Der Rock 'n' Roll ist tot, aber ich noch nicht".

„Meine Absicht ist, eine alternative Realität zu schaffen, in einem anderen Rahmen des Bewußtseins", sagt Boris Grebenshchikov. Konsequenz: „Ich kann nicht professioneller Musiker sein, weil das System in unserem Land so etwas wie mich negiert." Das Geld verdient er sich deshalb als Nachtwächter.

Seinen kärglichen Lebensunterhalt sichert sich der Keyboarder von „Aquarium" durch das Pianospiel bei Gymnastikstunden. Sergey Kuryokhin flog wegen dissidenten Musikverhaltens bereits aus mehreren Konservatorien. Durch eine in England erschienene Solo-Platte hat er weltweite Beachtung gefunden. Weil er aber kein offiziell anerkannter Musiker ist, kann der eigentliche Free-Jazzer nicht außerhalb der Sowjetunion auftreten, nicht einmal in den benachbarten Ostblockstaaten.

Boris Grebenshikov, Sergey Kuryokhin Im Hintergrund (von links nach rechts) Igor Letov (mit Saxophon), Vyacheslav Gayvaronsky (mit Trompete), Igor Butman (mit Saxophon) Club 81, Leningrad 1983 • Foto: (E-E) Evgenij Kozlov

Boris Grebenshikov, Sergey Kuryokhin
Im Hintergrund (von links nach rechts) Igor Letov (mit Saxophon), Vyacheslav Gayvaronsky (mit Trompete), Igor Butman (mit Saxophon)
Club 81, Leningrad 1983 • Foto: (E-E) Evgenij Kozlov

Durch Restriktionen lassen sich die Unruhe stiftenden Punk-Rocker und Jazzer Leningrads nicht von ihrer Linie abbringen. Boris Grebenshikov, der als Vorbild den Multiinstrumentalisten Brian Eno nennt: „Ich möchte stets andere Dinge kreieren." Seinen Ideen sind bislang beträchtliche instrumentale Grenzen gesetzt: Er verfügt zwar über eine qualitativ weniger gute elektrische Gitarre „made in Soviet Union", aber technisches Zubehör und die Anlage muß er vor jedem Konzertauftritt irgendwie auftreiben.            Hans Kumpf

Vladimir Volkov (Kontrabass) Vyacheslav Gayvoronsky (Trompete), Vladimir Boluchevsky (Saxophon), (E-E) Evgenij Kozlov (Künstler, mit Camera), Sergey Kuryokhin (Saxophon), and Igor Butman (Saxophon) Club 81, Leningrad 1983 • Photo: Hans Kumpf

Vladimir Volkov (Kontrabass) Vyacheslav Gayvoronsky (Trompete), Vladimir Boluchevsky (Saxophon),
(E-E) Evgenij Kozlov (Künstler, mit Kamera), Sergey Kuryokhin (Saxophon) und Igor Butman (Saxophon)
Club 81, Leningrad 1983 • Photo: Hans Kumpf


Im Hof des 'Club 81' Pyotr Lavrov Straße (=Furshtatskaya), August 1983 Teilnehmer der "Leningrad Collective Improvisations” stehend, von links nach rechts: Hans Kumpf (Klarinette), Ilona Henz-Haberkamp, (Musikwissenschaftlerin, im Publikum), Igor Butman (Saxophon), Arkady Dragomeshenko (Dichtung), Timur Novikov (Utiugon), Ivan Sotnikov (Utiugon), Sergey Letov (Saxophon, Bassklarinette), Alexander (Aleksandr) Kondrashkin (Schlagzeug), vordere Reihe, sitzend: Boris Grebenshikov (Guitarre und "kleine" Instrumente), Sergey Kuryokhin (Saxophon), Vladimir Boluchevsky (Saxophon), Vladimir Volkov (Kontrabass) Nicht im Bild, aber ebenfalls Teilnhemer an der Jam Session: Vyacheslav Gayvoronsky (Trompete) Leningrad, 1983 • Archiv Hans Kumpf.
Im Hof des 'Club 81' Pyotr Lavrov Straße (=Furshtatskaya), August 1983
Teilnehmer der "Leningrad Collective Improvisations”
stehend, von links nach rechts:
Hans Kumpf (Klarinette), Ilona Henz-Haberkamp, (Musikwissenschaftlerin, im Publikum),
Igor Butman (Saxophon), Arkady Dragomeshenko (Dichtung), Timur Novikov (Utiugon), Ivan Sotnikov (Utiugon), Sergey Letov (Saxophon, Bassklarinette), Alexander (Aleksandr) Kondrashkin (Schlagzeug),
vordere Reihe, sitzend:
Boris Grebenshikov (Guitarre und "kleine" Instrumente), Sergey Kuryokhin (Saxophon),
Vladimir Boluchevsky (Saxophon), Vladimir Volkov (Kontrabass)
Nicht im Bild, aber ebenfalls Teilnhemer an der Jam Session: Vyacheslav Gayvoronsky (Trompete)
Leningrad, 1983 • Archiv
Hans Kumpf.


up.

Russian names: Клуб-81, Сергей Курёхин, Владимир Болучевский, Игорь Бутман, Аркадий Драгомощенко, Вячеслав Гайворонский, Борис Гребенщиков, Александр Кондрашкин, [Ханс Кумпф], Сергей Летов, Тимур Новиков, Иван Сотников, Владимир Волков, (Е-Е) Евгений Козлов