Hannelore Fobo

Geisteswissenschaftliches Hellsehen und Kunst

Einige Bemerkungungen zu Evgenij Kozlovs „Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen" im Zusammenhang mit Rudolf Steiners Vorträgen zur „Kunst im Lichte der Mysterienweisheit“.


Inwiefern kann ein künstlerisches Werk ein Geschehen vorwegnehmen? Das „Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen“ stammt aus dem Jahr 1988. Timur Novikov ist 2002 im Alter von 43 Jahren nach schwerer Krankheit gestorben, die unter anderem zur Erblindung geführt hat.

Wenn man Evgenij Kozlovs Portrait betrachtet und ein Wissen um diese Fakten hat, ist man versucht, bestimmte Parallelen zu ziehen, die eine Vorahnung des Künstlers um das Schicksal Novikovs und seinen frühen Tod belegen könnten. In erster Linie sind das natürlich die Knochenarme, dann aber auch die Schutzlosigkeit des Körpers und die besondere Betonung der Augen.


Evgenij Kozlov,
											Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen Öl, Gouache/Baumwolle, 
												103 x 94 cm, 1988,
											Staatliches Russisches Museum, St. Petersburgг

Evgenij Kozlov
Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen Öl, Gouache/Baumwolle,
103 x 94 cm, 1988
Staatliches Russisches Museum, St. Petersburg
Eine solche Interpretation ist allerdings gewagt. Evgenij Kozlov selbst äußert sich 2010 folgendermaßen:

„Allerdings unterliegt man schon dem ersten Irrtum, wenn man meint, dass es mir um die Abbildung eines existierenden Menschen ging. [….] Wenn man mein Portrait von Timur Novikov aus dem Jahre 1988 betrachtet, so sieht man nicht Timur, sondern den Zustand, in den Timur letztendlich gelangte.“

Der entscheidenden Sätze stehen am Schluss der Aussage:

„Timur ist verbrannt. Hier brennt er nicht. Als ich mich mit der Komposition beschäftigt habe, habe ich nicht daran gedacht, dass Timur einst sterben wird. Sondern ich habe mich damit beschäftigt, dass die Wirkung der Schönheit zustande kommt. Inwiefern diese Schönheit einen tieferen Zusammenhang offen legt, kann ich hier nicht ausführen, aber vielleicht machen diese Andeutungen verständlich, was ein Portrait sein kann.”

Es kann also keineswegs darum gehen, in einer Art schlichter Interpretation von Symbolen im Nachhinein einige Behauptungen aufzustellen, die dem Künstler gewisse Fähigkeiten unterstellen: nämlich die Fähigkeit, das Schicksal eines Menschen konkret vorauszusagen. Allen Tager hat in seinem Buch «В будущее возьмут не всех» („Nicht alle werden in die Zukunft mitgenommen“) aus dem Jahre 2010 einen solchen Versuch unternommen, und er hat dabei außerdem sein eigenes Vorurteil gegenüber Timur Novikov in diese Interpretation hineingemischt, indem er kurzerhand aus dem aus dem durchscheinenden roten „Monokel“ über dem rechten Auge Timurs eine Augenklappe gemacht hat, die die Blindheit des Abgebildeten beweisen soll:

«Закрыв повязкой правый глаз Тимура, Евгений Козлов пророчески изобразил начало доминирования личности и ее мелких интересов, в ущерб жизни души» (стр. 232). «Evgenij Kozlov hat das rechte Auge von Timur mit einer Augenklappe überdeckt. In dieser Abbildung haben wir eine prophetische Sicht darauf, wie die Dominanz der Persönlichkeit mit ihren engen Interessen das seelische Leben schädigt.»

Letztendlich spielt es keine Rolle, ob man ein Portrait als „Beweis“ für die negativen oder für die positiven Charaktereigenschaften des Portraitierten ansieht: ein Kunstwerk ist kein Corpus delicti in einem Kriminalfall, in dem man gewisse Indizien zusammenträgt, um den Täter zu überführen oder freizusprechen. Man spekuliert doch nur über vermeintliche Hintergründe von Tatsachen, die bereits bekannt sind. Ein Kunstwerk ist aber in erster Linie Gegenstand der Meditation, nicht der Interpretation. Für diese Meditation ist die „Wirkung der Schönheit“ ausschlaggebend, wie sich Evgenij Kozlov ausdrückt. Die „Wirkung der Schönheit“ ergibt sich aus der spezifischen Art und Weise, wie Farbe und Formen im Bild angeordnet sind. Dass Farbe und Formen für sich genommen einen symbolischen Gehalt haben, ist nicht das Wesentliche, sondern die Bezüge, die sie miteinander eingehen. Um solche Bezüge herstellen zu können, ist ein Vermögen notwendig, das man als „künstlerische Intelligenz“ beschreiben könnte. Dadurch entsteht Schönheit oder eben auch nicht. Das bloße Anordnen von Attributen, das Orientieren an einem etablierten Kanon von Symbolen, so bedeutend sie für sich genommen sein mögen, führt nur zu allegorischen Darstellungen, die für die Kunst zweitrangig sind. Man rufe sich nur einmal die bedeutenden Kunstwerke ins Gedächtnis, beispielsweise eines Van Gogh oder Chagall, und man wird ihre Schönheit durchaus als intelligente Schönheit erleben.

Wenn man sich überhaupt mit dem Thema der prophetischen Gaben des Künstlers beschäftigt, so begibt man sich auf ausgesprochen schwieriges Terrain. Es soll nicht in Abrede gestellt werden, dass Evgenij Kozlov eine besondere Sensibiltät für geistige Strömungen hat. Ein solches Thema ist jedoch nicht in wenigen Worten abzuhandeln, schon gar nicht anhand einiger weniger Komponenten eines Bildwerks.

Von der Komplexität dieses Gebietes kann ein Auszug aus der Schrift Rudolf Steiners „Kunst im Lichte der Mysterienweisheit“ eine Vorstellung geben. Das folgende Zitat stammt aus dem Vortrag vom 4. Januar 1915. Bemerkenswert an dieser Textstelle ist die Tatsache, dass die Hellsichtigkeit unterschieden wird in pythisches, prophetisches und geisteswissenschaftliches Hellsehen. Letzteres, welches gegenüber den ersten beiden als höhreres Hellsehen bestimmt wird, wird mit dem Symbolum des Todes, dem Knochengerüst, in Verbindung gebracht. Der entscheidende Satz ist

„Wenn wir imstande sind, das, was aus wunderbarer Ahnung heraus das Volk empfindet als Symbolum des Todes, das Knochengerüst, das, was so fern ist dem Blut- und Nervensystem wie das Knochensystem, zu ergreifen, dann kommen wir zu dem, was ein Höheres ist gegenüber dem pythischen und prophetischen Hellsehen, dann kommen wir zu dem, was wir nennen können das geisteswissenschaftliche Hellsehen. In diesem geisteswissenschaftlichen Hellsehen erfassen wir nicht mehr einen Teil der menschlichen Natur, sondern wir erfassen den ganzen Menschen.“

Mir scheint, dass aus einer solchen differenzierten Kenntnis des Hellsehens heraus erst eine Annäherung an die geistigen Hintergründe des „Portraits von Timur Novikov mit Knochenarmen“ möglich ist.

Hannelore Fobo, 30. November 2011

Es folgt der Textabschnitt, aus dem dieses Zitat entnommen ist.

Rudolf Steiner „Kunst im Lichte der Mysterienweisheit“, GA275, S. 166 ff (4. Januar 1915)

Wenn man die Literatur der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts verfolgt, wenn es auch nicht mit der Genauigkeit und Präzision der neuen Geisteswissenschaft so beschrieben werden konnte wie heute, so werden Sie doch das pythische und das prophetische Hellsehen beschrieben finden. Man kennt heute diesen Unterschied nicht mehr, weil man nicht mehr das verstehen kann, was man von dem pythischen und prophetischen Hellsehen in den Büchern der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts liest. Beide Arten des Hellsehens aber sind heute nicht dasjenige, was wirklich die Menschheit vorwärtsbringen kann. Diese beiden Arten des Hellsehens sind diejenigen, welche alten Zeiten gegolten haben. Das heutige Hellsehen, das sich gegen die Zukunft hin immer mehr und mehr entwickeln muß, kann weder dadurch entstehen, daß wir das, was im Tagwachen unseren Leib von innen heraus durchdringt, genießen, noch auch dadurch, daß wir von außen in schlafähnlichem Zustande, aus Liebe - nicht zu uns selber, sondern zu demjenigen Menschenteile, dem unser Leib angehört - untertauchen in diesen Leib. Beide sind überwundene Standpunkte.

Das heutige Hellsehen muß sich so entwickeln, daß es als ein drittes auftritt, als ein solches, welches so wird, daß es weder von außen ein in liebender Gier Ergreifen des physischen Leibes ist, noch von innen ein Genießen des physischen Leibes. Das, was im Inneren lebt und innerlich unseren Leib genießend durchdringen kann, und das, was äußerlich, von außen herein den Leib ergreifen kann, muß beides aus dem Leibe herausgehen, das muß beides, wenn das heutige Hellsehen eintreten soll, nur so weit noch innerhalb der Inkarnation zwischen Geburt und Tod mit dem Leibe in Zusammenhang stehen, daß es Blut und Nerven weder von innen noch von außen genießt oder liebt, sondern es muß in reiner Abkehr von solchem Selbstgenuß oder solcher Selbstliebe verbunden bleiben mit dem Leibe. Die Verbindung mit dem Leibe muß allerdings trotzdem bleiben, denn sonst würde es ein Sterben bedeuten. Es muß der Mensch verbunden bleiben mit dem Leibe, der ihm angehört in der physischen Inkarnation auf der Erde, verbunden bleiben mit diesem Leibe durch die Glieder, welche gewissermaßen fernstehen oder wenigstens relativ fernstehen der Blut- und Nerventätigkeit. Die Loslösung von Blut- und Nerventätigkeit muß sich vollziehen.

Wenn der Mensch nicht mehr innerlich sich genießt auf den Bahnen, die zu seinen Sinnen hinführen, oder von außen sich durchdringt bis in seine Sinne herein, sondern wenn der Mensch gleichsam so mit sich selbst in Verbindung zu stehen vermag, von innen und von außen, daß er wirklich das lebendig in sich ergreifen kann, was das Symbolum des Todes für das physische Leben ist, wenn er sich verbinden kann mit dem, was die Anwartschaft auf den physischen Tod gibt, dann ist der in Betracht kommende Zustand erreicht. Denn wir sterben eigentlich physiologisch dadurch, daß wir imstande sind, das Knochensystem in uns zu entwickeln. Wenn wir imstande sind, das, was aus wunderbarer Ahnung heraus das Volk empfindet als Symbolum des Todes, das Knochengerüst, das, was so fern ist dem Blut- und Nervensystem wie das Knochensystem, zu ergreifen, dann kommen wir zu dem, was ein Höheres ist gegenüber dem pythischen und prophetischen Hellsehen, dann kommen wir zu dem, was wir nennen können das geisteswissenschaftliche Hellsehen.

In diesem geisteswissenschaftlichen Hellsehen erfassen wir nicht mehr einen Teil der menschlichen Natur, sondern wir erfassen den ganzen Menschen. Und es ist im Grunde genommen einerlei, ob wir ihn von innen oder von außen erfassen, denn ein Genießen kann diese Art des Hellsehens nicht mehr sein. Es ist nicht mehr ein raffinierter Genuß, sondern ein Aufgehen in den göttlich-geistigen Kräften des Alls. Es ist ein mit der Welt Einswerden, ein Erleben nicht mehr des Menschen und desjenigen, was in den Menschen hineingeheimnißt ist, sondern es ist ein Miterleben mit den Taten der Wesenheiten der höheren Hierarchien, ein wirkliches Sich-Herausheben aus dem Selbstgenuß und der Selbstliebe. Und so wie unsere Gedanken Glieder unserer Seele werden, so muß der Mensch gleichsam ein Gedanke, ein Glied werden gegenüber den höheren Hierarchien. Sich denken, sich vorstellen, sich wahrnehmen lassen von den höheren Hierarchien, das ist das Prinzip des geisteswissenschaftlichen Hellsehens.

Hingenommen werden, nicht sich hinnehmen.

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