Hannelore Fobo

Evgenij Kozlov «Miniaturen im Paradies», 1995 Seite 5




Film 1995 >
Film 2012 >
стр. 1 стр. 2 стр. 3 стр. 4 стр. 5 русский
page 1 page 2 page 3 page 4 page 5 english
Seite 1 Seite 2 Seite 3 Seite 4 Seite 5 deutsch


Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Миниатюры в Раю / Miniaturen im Paradies / Miniatures in Paradise  Berlin, Siegessäule, 1995


Archetyp und Prototyp


Evgenij Kozlov hat die Figuren der Miniaturen im Paradies aus den Grundformen Mann / Frau von 1988 herausentwickelt, aber sie sind keine geometrischen Varianten dieser Grundformen. Wir haben gesehen, dass die Eva der Miniatur Nr. 14 gegenüber der weiblichen Figur der Miniatur 1 eine wesentliche Differenzierung erfährt, und dasselbe gilt für den Adam der Nr. 15 im Verhältnis zur männlichen Figur. Eva und Adam bilden den Übergang von den rein geistigen zu den irdischen Symbolen, was sich im Titel der Miniatur 15 Adams Mühlstein ausdrückt. Insofern entspricht es der Logik des Zyklus’, dass diese beiden Miniaturen am Ende stehen.

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Я Я / YA YA Spray, paper, 145 x 404 cm, 1985.

(E-E) Evgenij Kozlov
Я Я / YA YA

Spray, paper, 145 x 404 cm, 1985.
mehr >>>

Ein Vergleich mit den Figuren Keith Harings kann diesen Gedanken veranschaulichen. Evgenij Kozlov (geb. 1955) und Keith Haring (geb. 1958) gehören zu einer Künstlergeneration, und wenn man einmal von den Unterschieden des kulturellen Erbes und des künstlerischen Ausdrucks absieht, gibt es für die achtziger Jahre einige Parallelen. Beide entwickeln figurative Zeichen, die eine bestimmte Werkperiode charakterisieren. Bei Keith Haring sind das unter anderem das „radiant baby“, das Krokodil und das Männchen mit dem Loch, bei Evgenij Kozlov das Totenkopfmännchen, die Rakete, die plus-minus Kette [5], danach die geometrischen Figuren des Mannes und der Frau. Dieses Figurenpaar lässt sich der geschlechtslosen Figur Harings gegenüberstellen, die Kozlovsche Engelsfigur der Engelsfigur von Haring. Man muss dabei allerdings berücksichtigen, dass sich Keith Haring ausschließlich in einem reduzierten grafischen Stil ausdrückte, während für Evgenij Kozlov dieser nur eine unter vielen Ausdrucksmöglichkeiten war.

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov, Из серии / Aus der Serie / from the series  ART-Remix Mixed media, paper, 50 x 44 cm, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Из серии / Aus der Serie / from the series
ART-Remix

Mischtechnik auf Papier,50 x 44 cm, 1995
Wenn man den Weg von Hearings zentraler Figur – des geschlechtslosen Männchens – von 1980 bis 1990 verfolgt, so kann man feststellen, dass es zwar die Bewegung verändert, nicht aber die Form als solche. Keith Haring hat mit dieser Figur einen Prototyp geschaffen, den er auch ornamental einsetzt, das heißt, als Element eines Musters, in dem sich die Figur wiederholt. Evgenij Kozlov hat mit seinen Symbolen Archetypen geschaffen, die er entwickelt. Der Archetyp ist ein künstlerisches Bild des geistigen Urbildes, der Prototyp ist die erste Realisierung einer Idee, die zur Vorlage wird, zum Logo.

Man könnte nun sagen, dass die geschlechtslose Figur archetypischer ist als die Figuren des Mannes und der Frau, da sie beide in sich aufnimmt. Das mag sein, aber die Polarität, die Kozlovs Figuren miteinander verbindet, gibt dem Künstler andere Möglichkeiten zur Ausdifferenzierung dieses Archetypus’ im Bild. Der Klarheit halber sei hinzugefügt, dass ein Bild kein Abbild ist, ein Urbild lässt sich nicht abbilden, sondern nur künstlerisch empfinden. Ein einfaches Bild eines Urbildes kann eine geniale Intuition sein, wenn wir an das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch denken. Das Einfache zu Wiederholen ist aber Ausgangspunkt für das Design, wie es Haring beispielsweise für die Bemalung eines BMW nutzte.

 

Für die Unterscheidung zwischen Archetyp und Prototyp ist auch ein Vergleich der Engelschar der Miniatur Nr. 5 mit den Engeln von Keith Harings Altartriptychon von 1990 aufschlussreich. Haring stellt die Engel immer frontal mit ausgebreiteten Flügeln dar, während Kozlov sie aus verschiedenen Perspektiven zeigt, in voller oder ganzer Seitenansicht oder von schräg unten. Auch die Flügelhaltung ist jeweils eine andere. Deswegen kann Kozlov trotz eines ähnlichen grafischen Ansatzes wie Haring, bei dem die Figuren nur durch Konturen dargestellt werden, seinen Figuren Individualität verleihen. Harings Figuren haben Persönlichkeit, Kozlovs Figuren haben Persönlichkeit und Innerlichkeit.

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Миниатюры в Раю / Miniaturen im Paradies / Miniatures in Paradise  Berlin, Tiergarten, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Миниатюры в Раю / Miniaturen im Paradies / Miniatures in Paradise
Berlin, Tiergarten, 1995
Epilog

Miniaturen im Paradies konnte tatsächlich am Nachmittag des 15. Juni 1995 am Großen Stern im Tiergarten eröffnet werden. Buchstäblich in letzter Minute waren wir mit allem fertig geworden. Es war mir gelungen, die notwendigen Genehmigungen (unter anderem des Bundespräsidialamtes und der Senatskanzlei Berlin) und die Unterstützung verschiedener Firmen zu bekommen, die uns Material und Logistik zur Verfügung stellten. Möglicherweise war die Tatsache von Vorteil, dass ich für die Korrespondenz das Briefpapier des Vereins „art-contact St. Petersburg Berlin e.V.“ benutzte, den Evgenij Kozlov und ich zwei Jahre zuvor gegründet hatte.

 

Beim Hissen der Miniaturen waren in großer Zahl Journalisten und Kameraleute vor Ort. Die Berichterstattung war dementsprechend umfangreich. Sie war auch umfangreich, als wir die Kunstaktion vor dem geplanten Ende abrechen mussten.

Hier die Pressemitteilung zum Abbruch der Ausstellung:

 

Wer Kunst im öffentlichen Raum zeigt, geht ein unkalkulierbares Risiko ein. Diese Erfahrung musste auch der St. Petersburger Künstler Evgenij Kozlov machen, der im vergangenen Juni seinen Zyklus «Miniaturen im Paradies» am Großen Stern in Berlin-Tiergarten zeigte.

Der Künstler hatte den Tiergarten nebst Großen Stern, Siegessäule und Goldengel kurzerhand zum Paradies erklärt und vom Bundespräsidialamt sowie dem Berliner Senatsprotokoll die Erlaubnis erhalten, die Fahnenstangen am Großen Stern zwischen zwei Staatsbesuchen zu nutzen.

Am 15. Juni hisste er sechzehn «Miniaturen» im Format von jeweils fünf mal zwei Meter. Doch die leuchtenden Originalgemälde mit ihrer klaren, russischen Formensprache, die die Motive des Außenraums miteinbeziehen, wurden zur großen Versuchung für die zahlreichen Berlin-Besucher während der Reichstagsverhüllung: am dreizehnten Tag hing nur mehr ein abgeschnittenes Seil am Fahnenmast der Miniatur Nr. 3 «Der rote Punkt», dem Schlüsselmotiv der Serie. Ihm liegt das Logo von Evgenij Kozlovs Berliner Atelier «Das Russische Feld» zugrunde.

Dem Künstler blieb keine Zeit, sich vom Schrecken zu erholen. In der darauffolgenden Nacht wurden auch die Miniaturen Nr. 8, 9 und 15 zur Beute von Fans, worauf er die Aktion eine Woche vor Ausstellungsende abbrach, um die restlichen zwölf Gemälde zu sichern. Zum Verlust kommt der finanzielle Schaden: die Kunstwerke waren nicht versichert.

 

Man kann nicht sagen, dass wir nicht gewarnt worden seien. Als wir den Fahnenstoff auswählten, hatten wir die Wahl zwischen einem Format von 4 x 1,5 Metern und von 5 x 2 Metern. Wir wollten aber unbedingt in großem Maßstab schaffen und entschieden uns für letzteres, obwohl sich dadurch das untere Ende der Befestigung an der Fahnenstange mit einer Leiter erreichen ließ. Die Fans schnitten die Schnüre einfach ab und ließen die Fahnen herunter..

 

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov,  Миниатюра 15, деталь / Miniature No. 15, detail studio Russkoee Polee / Das Russische Feld / Russian Field Berlin, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Miniatur Nr. 15, Detail
Studio Russkoee Polee 2 / Das Russische Feld 2
/ The Russian Field 2
Berlin, 1995

 

Die sechzehn Miniaturen können in ihrer Gesamtheit somit nur noch als Fotografien gezeigt werden. Ein Trost ist es, dass die beiden Zyklen auf Papier vollständig erhalten sind. Aber auch die 12 Miniaturen, die nicht zum Diebesgut geworden sind, sehen heute nicht mehr wie zum Zeitpunkt ihrer Herstellung aus. Der Wind hat mit ihnen gespielt, und die Lackfarbe, die nicht so elastisch ist wie der Stoff, ist an manchen Stellen gebrochen und hat sich dort in schmalen Streifen abgelöst, insbesondere entlang des Randes. Die Zeichen der Zeit sind für die Miniaturen aber nicht unbedingt zum Nachteil geworden; es ergeben sich neue Effekte, die nicht planbar waren. Die Miniaturen im Paradies haben nun eine eigene Geschichte, deren Ende noch nicht geschrieben ist.

Vielleicht kennt der Künstler aber doch ihre Fortsetzung:

 

„Sie sind natürlich speziell für diesen Ort geschaffen worden. Und die Art und Weise, wie sie gezeigt wurden, war wirklich paradiesisch. Ich hoffe, dass sie von Fans aus dem Paradies gestohlen wurden. Irgendwann und irgendwo werden sie wieder auftauchen. Ganz bestimmt aber werde ich sie im Paradies wiederfinden. Das weiß ich sicher. Mit anderen Worten, die nächste Ausstellung findet im Paradies statt – jedenfalls die nächste Ausstellung mit den gestohlenen Fahnen.“

© Hannelore Fobo, Text und Fotografien, 1995 / 2012. Zuletzt geändert Juni 2017.



[5] Mehr dazu in meinem Aufsatz über „B(L)ACK ART 1985 – 87“, 2012 >>>

 zurück zur S. 1 >>