Hannelore Fobo

Evgenij Kozlov «Miniaturen im Paradies», 1995 Seite 4




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Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Миниатюры в Раю / Miniatures in Paradise / Miniaturen im Paradies


Miniaturen – eine Interpretation

Das Paradies als universelle Seele ist dem Blick von der Erde aus verschleiert. Die künstlerische Inspiration kann die Vorgänge hinter dem Schleier erfassen und für sie Symbole schaffen. Insofern sind die Miniaturen sind „die symbolhafte Darstellung realer seelischer Verhältnisse – von außerhalb der Erde aus gesehen.“

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Miniature No. 14, work in progress, studio Russkoee Polee 2, Berlin, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Miniatur Nr. 14, Stadium
studio Russkoee Polee 2, Berlin, 1995

Dem widerspricht nicht, dass in den Miniaturen Symbole verwendet werden, die wir irdischen, körperlichen Gegenständen zuordnen können. Vielmehr sucht und schafft der Künstler die Symbole nach der Bedeutung, die in ihrer irdischen Funktion aufschimmert, ohne mit ihr identisch zu sein. Das Symbol der Frau ist keine Abbildung einer realen Frau, ebenso wenig ist das Symbol des Mannes die Abbildung eines realen Mannes. Die reale Frau und der reale Mann haben jeweils weibliche und männliche Eigenschaften. Die Miniaturen 11 Die Verliebten Feuer von Petrodvorets und Nr 12 Das Weibliche Leben - Der Männliche Traum können dies veranschaulichen. Die Zuordnung oben – unten zu Mann – Frau ändert sich von Motiv 11 zu 12. Durch den Kuppelturm ist ein Drehmoment gegeben. Das eine Motiv geht in das andere über. Eine solche graphische Darstellung der Wandlung polarer Kräfte kennen wir vom Symbol des Yin und Yang. Evgenij Kozlov hat diese Wandlung bereits angelegt im Gemälde Berührungspunkte von 1989. Schwarz ist der Punkt im Kopf des Mannes und auf dem Unterkörper der Frau; Rot ist der Punkt im Kopf der Frau und auf dem Unterkörper des Mannes.

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov, Эскис для Миниатюры 13 / Drawing for Miniature No. 13 /  Skizze für Miniatur Nr. 13, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Эскис для Миниатюры 13 /
Drawing for Miniature No. 13 /
Skizze für Miniatur Nr. 1
3, 1995

Aber auch der Kuppelturm selbst als Berliner Motiv ist Ergebnis einer solchen thematischen Wandlung, nämlich in Bezug auf die Rotunden im Schlosspark von Peterhof oder Petrodvorets. Dies bringt der Titel der Miniatur Nr. 11 zum Ausdruck, und deshalb beschreibt der Künstler dieses Motiv als „Zarenresidenz“.

 

Wie differenziert die Entwicklung der Symbole erfolgt, insbesondere der Engelsfiguren, kann ein Vergleich der Miniaturen Nr. 5 und 7 zeigen. Die Miniatur Nr. 5 Das Paradies in Miniatur ist aus der Stadtsilhouette St. Petersburgs heraus gestaltet, in der die Turmspitze der Peter-und-Paul-Kathedrale dominiert. Für Evgenij Kozlov ist diese Kirche das geistige Zentrum der Stadt, und die beiden rechts und links des Kirchturms angeordneten Figuren sind die Apostel, nach denen sie benannt ist. Der Engel ist in Kozlovs Motiv aus der Turmspitze herausgezogen und bildet mit dieser nur noch eine ideelle, aber keine materielle Einheit. Die sieben Engelsfiguren, von denen der zentrale Engel umgeben ist, können ebenfalls als Apostel interpretiert werden – die Anordnung erinnert deutlich an das Letzte Abendmahl.

 

Im Entwurf zu diesem Motiv hat der Künstler auf beide Seiten des zentralen Engels jeweils vier Engel platziert. In der Ausführung sind es nur noch sieben Gefährten. 7 + 1 oder besser, sieben in eins, ist eine Weltschöpfungszahl: nach der Schöpfungsgeschichte wurde die Welt in sieben Tagen geschaffen.

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov, Эскис для Миниатюры 5, деталь / Drawing for Miniature No. 5, detail / Skizze für Miniatur Nr. 5, Detail, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Эскис для Миниатюры 5, деталь /
Drawing for Miniature No. 5, detail /
Skizze für Miniatur Nr. 5, Detail, 1995

Evgenij Kozlov hat das Geschehen so angeordnet, dass der Blick auf die Stadtsilhouette – im Wesentlichen die Gebäude der Peter-und-Paul-Festung – vom südlichen Nevaufer aus fällt. Der Fluss ist im Bild nur als schmale Linie zum unteren Bildrand angedeutet. Dennoch ist er die Barriere, die den Betrachter vom Inhalt des Bildes trennt: der Fluss des Vergessens, in der griechischen Mythologie Lethe, aus dem die Seelen trinken, wenn sie in die Unterwelt eingehen. Der Künstler ist der Fährmann, der die Seelen hinüberrudert. Wir sehen hier bereits, was wir sehen werden, wenn wir über den Fluss des Vergessens in das nächste Leben eingehen werden, nicht mehr in die Unterwelt, sondern ins Paradies. Das Paradies wird uns in Symbolen gezeigt, in der himmlischen Versammlung. Wenn diese Symbole aber eine Realität erfassen, anders ausgedrückt: nichts Ausgedachtes beinhalten, dann können sie auf uns wirken. Dann ist die Grenze zwischen diesseits und jenseits keine vollständige und das Vergessen kein absolutes, weder in der einen noch in der anderen Richtung.

 

Der Engel des Großen Stern der Miniatur Nr. 7 stützt sich mit einem Bein auf die Erde: fest wie ein Pfosten verleiht es ihm Halt, das andere Bein schwingt zur Seite. Der Blick des Betrachters ist auf die Mitte des Bildes, auf den Körper des Engels gerichtet. Dabei umfasst er den Großen Stern mit seinen fünf Radialen von oben und den Himmel, in den der Engel die Siegessäule hineinträgt, von unten. Durch diese doppelte Perspektive erhält die Engelsfigur eine optische Biegung und Plastizität.

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov, Miniature No 7, work in progress, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Miniatur Nr 7, Stadium, 1995

Der asymetrische Stern aber wirkt wie eine lebendige Figur, die ihre Gliedmaßen in verschiedene Richtungen streckt und über die Erde ein Netz von Kraftlinien spannt. Die Zacken sind ja nicht geschlossen, sondern sie scheinen sich irgendwo im Unendlichen zu schließen. Wenn wir uns diese Figur über den Bildrand hinaus vorstellen, so macht sie die Krümmung der Erde mit. Somit haben wir zwei gekrümmte Räume, die aneinanderstoßen: den horizontalen des Sterns und den vertikalen des Engels. Beide Fiugren scheinen zu schweben, sind in den dimensionslosen Luftraum eingebettet.

 

Dass der Künstler für das Petersburger Motiv die Silhouette der Peter-und-Paul Festung gewählt hat, lässt sich auch aufgrund der geschichtlichen Bedeutung des Ortes nachvollziehen. Mit dem Bau der Festung durch Peter den Großen im Jahre 1703 beginnt die Geschichte der Stadt und damit die für die weitere Entwicklung Russlands so wesentliche Öffnung nach Westen. Der westeuropäische Einfluss auf die Gestaltung St. Petersburgs ist beträchtlich, nicht nur was die Architektur betrifft, sondern auch seine Institutionen.

Auf der anderen Seite ist die Wahl der Siegessäule als Berliner Motiv nicht ohne weiteres gegeben. Als Berliner Wahrzeichen gilt das Brandenburger Tor, und wenn es Evgenij Kozlov nur um die Darstellung eines Engels gegangen wäre, hätte er sehr wohl die Siegesgöttin auf der Quadriga thematisieren können; letztendlich ist sie nichts anderes als eine Nike oder Viktoria, genauso wie der Siegesengel auf der Siegessäule.

 

Wenn man die Miniaturen Nr. 5 und Nr 7 nebeneinander betrachtet, so sieht man aber, dass das Brandenburger Tor mit der Quadriga durch seine horizontale Anordnung letztendlich eine Variation der Petersburger Stadtsilhouette bedeutet hätte. Es wäre dann eine gewisse Willkür in die Gestaltung der Miniaturen hineingekommen, eine Austauschbarkeit der Symbole. Ihr Wiederekennungseffekt hätte im Vordergrund gestanden, so wie es das Anliegen der Werbung ist, wo aus dem Symbol das Stereotyp wird.

 

Evgenij Kozlov, Miniature No. 5 Рай в Миниатюре. Das Paradies in Miniatur. Paradise in Miniature.
Evgenij Kozlov
Miniature No. 5
Рай в Миниатюре.
Das Paradies in Miniatur.
Paradise in Miniature.
Evgenij Kozlov, Miniature No. 7 Ангел Большой Звезды. Der Engel des Großen Stern. The Angel of the Great Star.
Evgenij Kozlov
Miniature No. 7
Ангел Большой Звезды.
Der Engel des Großen Stern.
The Angel of the Great Star.

Für den Engel des Großen Stern gilt dieses Stereotyp nicht. Das Bild ist anders aufgebaut als das Paradies in Miniatur, sowohl in Hinsicht auf die Motive als auch auf ihre Anordnung. Der wichtigste Unterschied liegt in dem bereits oben skizzierten: das Petersburger Motiv wird überwiegend vom himmlischen Geschehen bestimmt, und zwischen der himmlischen Geistigkeit und der irdischen gibt es nur eine unsichtbare Verbindung. Das Berliner Motiv hat eine viel kräftigere Mitte: der Engel, der der Erde verhaftet ist und das menschliche Kunsterzeugnis – die Siegessäule – in den Himmel hebt.

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Dennoch sind die beiden Miniaturen miteinander in Harmonie. Das gilt sowohl für Nr. 5 und 7 als auch für die Zweitversionen Nr. 6 Dem Herzen Kannst Du Nicht Befehlen und Nr. 8. Der Himmlische Engel. Zum einen liegt dies an der Wahl der Farben, die jeweils aufeinander Bezug nehmen. Dann gibt es aber auch die direkte Übernahme der St. Petersburger Stadtsilhouette in das Berliner Motiv. Sie befindet sich oberhalb des Großen Sterns, wirft einen gelben Schatten und bildet damit auch hier den Horizont.

 

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov, б. н. / o.T. / untitled Mixed media, 70 x 100.2 cm, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
б. н. /
o.T. / untitled
Mischtechnik, auf Papier 70 x 100.2 cm, 1995

Wenn wir uns fragen: Was ist russisch an Berlin? so ist die Antwort nicht so klar, wie wenn wir uns fragen, was an St. Petersburg deutsch ist: der Name selbst deutsch. Sicher, der Name Berlins ist slawischer Herkunft, aber er hat höchstwahrscheinlich einen geografischen Bezug. Jedenfalls ist er keine willentliche Setzung so wie bei Peter dem Großen, der sie dem Apostel Peter widmete. Ein Akt des Willens ist es da viel eher, die Silhouette der Peter-und-Paul-Festung in den Großen Stern hineinzuversetzen.

Dann ist er ein Zeichen dafür, dass der Künstler zum Engel des Großen Stern einen geistigen Zugang hat, der nichts mit dem geschichtlichen Ursprung der Siegessäule, den preussischen Siegen im 19. Jahrhundert, zu tun hat. Der Engel des Großen Stern trägt die Siegessäule über sich, als ob sie aus ihm hinauswächst. Im Gespräch vergleicht der Künstler diese Siegessäule mit einem Kreuz, das aus dem Kopf wächst, Motiv zweier „kleinen“ Miniaturen, einer „Eva“ und einem „Adam“:

„Von Zeit zu Zeit stelle ich diese Säule auf den Kopf meiner Symbole, Formen, Ideen. Aber dass hier ein Kreuz herauswächst, das ist das erste Mal.“
Евгений Козлов / Evgenij Kozlov, б. н. / o.T. / untitled Mixed media, 70 x 100.2 cm, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
б. н. /
o.T. / untitled
Mischtechnik auf Papier, 70 x 100.2 cm, 1995

Es ist seine Empfindung, die sich diesen Zugang verschafft. Sie ist eine natürliche Anlage, die ihre ersten Eindrücke aus der Harmonie der westeuropäischen Architektur St. Petersburgs und Peterhofs (Petrodvorets), der Zarenresidenz am Finnischen Meerbusen erhielt, und gleichermaßen aus der natürlichen Harmonie des Ortes, dem Himmel, der Meeresbucht, der Parkanlagen. Die Stärke der Empfindung ist gepaart mit einem Willen, der alles Disharmonische aus der Wahrnehmung absondert, wenn sie künstlerische Formen und Symbole schafft.

 

Das Ziel des schöpferischen Aktes beschreibt der Künstler im Zusammenhang mit diesen beiden kleinen Miniaturen, in denen die Figuren von Herzen eingefasst werden:

„Das Herz als Element meiner Arbeiten ist an für sich nichts Ungewöhnliches, aber bisher waren die Herzen recht klein und befanden sich normalerweise innerhalb des Menschen, zum Beispiel in der Brust, im Kopf oder den Händen. Und hier sind sie über den Menschen hinausgewachsen und haben ihn in sich aufgenommen. Ein Spiel mit umgekehrtem Vorzeichen. Das Herz wird größer und größer, die Liebe wird größer und größer, die Anzahl der Farben wird größer und größer, die Schönheit wird größer und größer.“

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