Hannelore Fobo

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Hannelore Fobo
(E-E) Evgenij Kozlov «Miniaturen im Paradies», 1995

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov Миниатюры в Раю / Miniatures in Paradise / Miniaturen im Paradies, Berlin, Siegessäule


Miniaturen im Paradies hieß die Ausstellung von Evgenij Kozlov an der Siegessäule in Berlin. Diese sechzehn sogenannten Miniaturen, Originalgemälde auf Stoff im Format von jeweils 5 x 2 Meter, sind vergleichbar mit „Gonfanonen”, Prozessions- oder Kirchenfahnen. Sie wurden am 15. Juni 1995 am „Großen Stern” an Fahnenstangen hochgezogen. [1]

Eвгений Козлов / Evgenij Kozlov, Miniatures / Миниатюры, studio «Russkoee Polee 2», 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Миниатюры / Miniatures / Miniaturen,
studio «Russkoee Polee 2 / Das Russische Feld / Russian Field», 1995

Von der ersten Idee einer Ausstellung bis zu ihrer Realisierung dauerte es drei Monate. Das ist ausgesprochen wenig Zeit, wenn man bedenkt, dass das gesamte Projekt von zwei Personen realisiert wurde: dem Künstler und mir selbst. Die Aufgabenteilung war klar geregelt: Evgenij Kozlov entwickelte die Symbole für die Miniaturen – zunächst auf Zeichnungen, die er auf Schablonen übertrug – und legte ihre farbliche Gestaltung fest. Ich besorgte Stoffe und Farben, kümmerte mich um die notwendigen Genehmigungen und die Öffentlichkeitsarbeit. Darüber hinaus war ich am Produktionsprozess beteiligt, indem ich die Stoffe für die Bemalung vorbereitete und nähte und mit großer Begeisterung gemeinsam mit dem Künstler bemalte.

 

Während der Herstellung lagen die Miniaturen auf dem Boden, und es war jedes Mal eine besondere Erfahrung, wenn eine Miniatur nach der Fertigstellung hängend ihre Raumwirkung entfaltete. Die geometrisierenden Formen, die kräftigen Farbkontraste und der klare Aufbau der Kompositionen waren für den Blick aus der Ferne gedacht. Im Unterschied zur rein grafischen Wirkung von Flaggen, wie man sie von den Piktogrammen Matt Mullicans kennt, von dem 1995 ebenfalls eine Ausstellung in Berlin zu sehen war, besitzen die Miniaturen einen erzählerischen Inhalt, der sich aus der Kombination von figurativen, architektonischen, floralen und abstrakten Elemente generiert. Diese Elemente sind so konzipiert, dass die Kompositionen den Eindruck von Bewegung vermitteln.

 

Eвгений Козлов / Evgenij Kozlov Miniature Nо. 12, (left) Miniature Nо. 6 (right), Tiergarten, Berlin, 1995

(E-E) Evgenij Kozlov
Miniatur Nr. 12, (links) Miniatur Nr. 6 (rechts)
Tiergarten, Berlin, 1995

Sowohl bei der Wahl der Motive als auch bei ihrer Gestaltung spielte der Ort, für den die Ausstellung geplant wurde, eine herausragende Rolle. Die Siegessäule, vom Siegesengel bekrönt, der „Große Stern“ – der Platz, der die Siegessäule ringförmig umgibt – und seine Umgebung, der Tiergarten: sie sind für Evgenij Kozlov im Zusammenhang mit diesem Zyklus himmlische oder paradiesische Motive (die beiden Begriffe sind hier synonym). Der Zyklus beginnt mit Symbolen, die er bereits vor 1995 geschaffen hat – dem Mann, der Frau, der Stadtsilhouette St. Petersburgs –, entwickelt dann aber, ausgehend von der Siegessäule sowie in Erinnerung an die Petersburger Architektur, insbesondere das Motiv des Engels. Auch andere „Berliner“ und russische Symbole kommen dazu.

 

In meiner Beschreibung der Miniaturen  von 1995 heißt es

„Die 16 Miniaturen zeigen Momentaufnahmen aus demjenigen Bereich der seelischen Welt des Menschen, welcher nicht dem zielgerichteten Verlangen des Individuums gehorcht, sondern durch Wechselwirkungen innerhalb der universellen Seele – des Paradieses – aufgebaut und damit für alle verbindlich wird. Es handelt sich um Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Kräften oder Gestalten, symbolisiert durch zeichenhafte, idealisierte Figuren – in erster Linie Frau, Mann, sodann Sonne, Stadt, Säule, Planet, Engel u.a. –, deren  Anfänge man in Evgenij Kozlovs Werk bis in die Mitte der achtziger Jahre zurückverfolgen kann.

Dabei ist die zentrale Fragestellung des Künstlers: Wie würde ein Mensch diese Beziehungen wahrnehmen, der nicht auf der Erde geboren wurde und nie seinen Fuß auf diese gesetzt hat? Was Evgenij Kozlov anstrebt, ist die symbolhafte Darstellung realer seelischer Verhältnisse – von außerhalb der Erde aus gesehen.“ 

Ich beziehe mich in dieser Beschreibung auf eine Notiz des Künstlers aus dem Jahre 1991 mit dem Titel „Zwei Kosmische Systeme“, in der er seine künstlerische Vorgehensweise beschreibt. Er unterscheidet in ihr das 1. Kosmische System, das die Gesetze voraussetzt, wie sie innerhalb der Erde existieren und von diesem Standpunkt aus den Blick auf die Kunst bestimmen, und das 2. Kosmische System, das den Blick aus dem Kosmos auf die Schöpfung im Ganzen voraussetzt, „und zwar so, als ob der Künstler im Weltenraum geboren worden sei und den gesamten Weg seiner Entwicklung und seines Werdens ausschließlich in ihm durchlaufen würde”. Weiter heißt es in dieser Notiz

„Vorstellen kann man sich eine solche Situation. Verfolgen kann man ihre Entwicklung nur durch die Empfindung, wenn das Verlangen und die Eingebung eine natürliche Verschmelzung der beiden Systeme herbeiführen.”

Im Titel des Zyklus Miniaturen im Paradies spiegelt sich dieser künstlerische Ansatz. „Miniaturen“ sind diese Bilder im Format von 5 x 2 Metern vom Kosmos aus gesehen. Es sind Bilder einer kosmischen Erfahrung, die den menschlichen Sinnesorganen Symbole schafft.

Vorgeschichte
 Eвгений Козлов / Evgenij Kozlov untitled (Shorts) oil, cotton,  42 x 57 cm, 1987

(E-E) Evgenij Kozlov
б.н. / o. T. / untitled (Shorts)
Oil, cotton, 42 x 57 cm, 1987
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Berlin hatte Evgenij Kozlov 1991 kennengelernt. Der Grund war unsere Bekanntschaft im damaligen Leningrad im Jahr zuvor, und schließlich ist er 1993 ganz hierher gezogen. Das Atelier „Das Russische Feld“ oder „Russkoee Polee 2“ [2] , das wir 1994 in einer Fabriketage in Berlin-Mitte eröffneten, gab ihm die Möglichkeit zur Realisierung von großen Formaten.

Und hier knüpfte er 1995 mit den Miniaturen noch einmal an den künstlerischen Stil der Periode von 1987 – 89 an. Damals benutzte er Symbole, die sich die sowjetische Propaganda zueigen gemacht hatte – Stern,  Kosmos, Familie u.a. –, und schuf damit Archetypen, in denen Gestaltungsprinzipien des Konstruktivismus’ bzw. Suprematismus’ zur Wirkung kommen. Gemeint ist die Gestaltung der Figuren und sonstigen Formen mithilfe der geometrischen Grundformen Dreieck, Viereck, Kreis und ihrer Schnittlinien. Wir kennen dieses Vorgehen aus der Grafik El Lissitzkys oder auch aus der figurativen Malerei von Malevich, beispielsweise dem Holzfäller von 1913.

 

 

Евгений Козлов / Evgenij Kozlov „Мертвые Ласки Века“, До … / "Dead Caresses of the Century" Until … Tempera, gouache, cardboard 95 x 71 cm, 1980

(E-E) Evgenij Kozlov
„Мертвые Ласки Века“, До … /
‘The Century‘s Dead Affections‘, Until …
Tempera, Gouache, Karton
95 x 71 cm, 1980
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Mit diesen Archetypen wollte er die „Entgeistigung“ der im Kommunismus verwendeten Symbole überwinden, indem er sie mit den Mitteln der Verfremdung, Umformung oder Steigerung aus dem Kontext der politischen Agitation herauszog. Bereits 1980 gibt es einen Ansatz dazu mit dem in Tempera und Gouache ausgeführten Gemälde „Die toten Zärtlichkeiten des Jahrhunderts“, Bis ... . Wir sehen zwei männliche Figuren vor dem Hintergrund einer Winterlandschaft, die gleichzeitig den Himmel darstellt. Sie sind miteinander im Gespräch, wobei sie Freundschaft heucheln: links die USA mit Frack und Zylinder, rechts daneben mit einem riesigem rotem Umhang Russland. Hier knüpft Evgenij Kozlov an eine andere Erfindung der russisch-sowjetischen Avantgarde an: an die Ästhetik der ROSTA-Fenster aus der Zeit von 1919 bis 1921, satirische Propagandaplakate gegen den Klassenfeind, deren bekanntester Künstler Majakowski war. Doch gibt es in der Gestaltung des Motivs einen bedeutenden Unterschied zur Revolutionskunst, die ästhetisch innovativ, aber inhaltlich ausgesprochen schlicht ist mit ihren Klischees von Gut und Böse. Ein solches Klischee gibt es hier nicht, beide Figuren schenken einander nichts. Was sie nicht sehen und ahnen ist, dass sie vor ihrer gegenseitigen Vernichtung ein Engel schützt, der hinter ihnen steht und beide Figuren mit seinen Flügeln umfängt. Hinter dem Engel befindet sich ein großes Kreuz, das die gesamte Bildfläche durchläuft. Engel und Kreuz sind farblich auf das Blau der Himmelslandschaft abgestimmt, so dass sie nicht sofort ins Auge fallen. Es ist eine subtile Umgestaltung, die dem Bild seine Tiefe verleiht.

 

 

Eвгений Козлов / Evgenij Kozlov, Точки Соприкосновения / Berührungspunkte / Points of Contact, Oil, jute, 237 x 112 cm, 1989

(E-E) Evgenij Kozlov
Точки Соприкосновения /
Berührungspunkte / Points of Contact

Öl auf Jute, 237 x 112 cm, 1989

Das Motiv des Engels, das in den Miniaturen eine zentrale Position einnimmt, entwickelt sich aus den konstruktivistischen Archetypen „Mann“ und „Frau“ von 1988/89: die spitz zulaufenden Arme, die fast in der Taille ansetzen, haben bereits annähernd eine Flügelform. Für die Engel muss lediglich die obere beziehungsweise untere Linie des Arms bogenförmig erweitert werden. Indem der Arm mehr Volumen erhält, wird er zum Flügel. Die Engel der Miniaturen Nr. 7 bis 10 haben zusätzlich zu solchen Armen große, gefiederte Flügel, die wie beim Engel von 1980 weit ausgreifen.

 

Engel als geistige Symbole spielen im Werk Evgenij Kozlovs keine geringe Rolle. Es ist nicht so, dass sie zwangsläufig mit den Attributen des Engels, den Flügeln, ausgestattet werden. Im Gemälde von 1990 Die Engel des Russischen Feldes hat die zentrale Engelsfigur keine Flügel. Das gilt auch für zahlreiche Figuren aus dem Grafikzyklus gleichen Titels von 1994. Bei den Miniaturen im Paradies verzichtet der Künstler aber auf die Gestaltung des Gesichts, mit dem er normalerweise den geistigen Ausdruck der Figuren bestimmt. Besser gesagt, er deutet das Gesicht nur noch durch einen Kreisausschnitt an. Den Ausdruck bestimmt er mit der Bewegung der Körper und der räumlichen Aufteilung der Komposition. Im Unterschied zur weitgehend gegenstandslosen Grafik eines El Lissitzky, der mit geometrischen Elementen mehr oder weniger komplexe Gravitationszentren im Bild schafft, ist die Hierarchisierung, Staffelung und gegenseitige Durchdringung der Bildelemente bei Evgenij Kozlov Ausdruck menschlich-göttlicher Verbindungen.

Eвгений Козлов / Evgenij Kozlov, Любовь к космосу / Die Liebe zum Kosmos / Love to the Cosmos, Oil, canvas, 3 x 2 m,1990

(E-E) Evgenij Kozlov
Любовь к космосу / Die Liebe zum Kosmos / Love to the Cosmos
Öl auf Leinwand, 3 x 2 m,1990

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Im Zyklus von 1989 / 90 Die Neue Klassik, der ebenfalls in Schablonentechnik ausgeführt wurde, ist dieser Ansatz in komplexer Weise ausgearbeitet. Für die Miniaturen im Paradies mit ihrer auf die Entfernung bedachte Wirkung wurde die Anzahl der Formen reduziert. Die Formensprache musste zeichenhafter werden, ohne dass der Inhalt seine geistige Substanz einbüßte.

 



[1] Von der Machart her sind die Miniaturen Fahnen – Einzelstücke, im Unterschied zu Flaggen. Technisch gesehen sind sie Banner (in der modernen Definition), da sie an einem Querstange hängen, die mit einer Schnur am Flaggenmast befestigt wird. Vertikale Stabilität erhielten sie durch ein Ringband, das mittig aufgenäht wurde. Durch die Ringe wurde ein Flaggenseil geführt, mit der die Mininaturen untem am Fahnenmast verknotet wurden. Aufgrund dieser Gestaltung, vor allem aber ihrer Semantik, bezeichnet Evgenij Kozlov sie in jüngster Zeit als „Xorugvy“, wie der kirchenslawische Ausdruck für Prozessionsfahnen heißt.e ein Flaggenseil geführt, mit der die Mininaturen untem am Fahnenmast verknotet wurden.



[2] Nr. 1 war sein Leningrader Atelier 1989-91

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