(E-E) Ev.g.e.n.i.j ..K.o.z.l.o.     Berlin                                                  


      (E-E) Evgenij Kozlov: Leningrad 80s >>

Hannelore Fobo: Die Neuen Künstler, Leningrad (1982-1989)

Wahrheit und Schein als Strategie bei Timur Novikov
und als Transfiguration bei (E-E) Evgenij Kozlov

Symposium Gegen(-)Kollektive • Leipzig, 10. September 2021


Seite 1 – Vortrag: Einleitung

Seite 2 – Timur Novikov: Strategie

Seite 3 – Die Neuen Künstler in Fotocollagen

Seite 4 – (E-E) Evgenij Kozlov: Transfiguration

Seite 5 – Veranstaltung Gegen(-)Kollektive

Seite 6 – Ausstellung in der Galerie KUB


Seite 1 - Vortrag: Einleitung  

Hannelore Fobo. Vortrag "Die Neuen Künstler" in der Galerie KUB, Leipzig, 10. September 2021.

Hannelore Fobo. Vortrag "Die Neuen Künstler" in der Galerie KUB, Leipzig, 10. September 2021.


In diesem Vortrag stelle ich die Frage nach der Herausbildung einer gemeinsamen Identität der Neuen Künstler, der wichtigsten Leningrader Künstlergruppe der späten Sowjetzeit. Sie werden von mir aber keinen geschichtlichen Abriss der Neuen Künstler erhalten. Denn es geht mir nicht darum, ob und wie diese Identität auf natürliche Weise durch gemeinsame – kollektive – Aktionen erfolgte und welche Widerstände dabei überwunden werden mussten. Vielmehr will ich Ihnen zeigen, wie eine solche Gruppenidentität von zwei Protagonisten der Gruppe verstärkt wurde, und zwar einerseits strategisch und andererseits künstlerisch. Es handelt sich um zwei komplett verschiedene Herangehensweisen, die bis heute nachwirken – die eine durch das Wort und die andere durch das Bild.

Uljana Tsejtlina, Georgy Guryanov und Timur Novikov während der Performance "Das Ballett der Drei Unzertrennlichen" nach Charms, Leningrad, 1985. (E-E) Evgenij Kozlov, vintage print, übermalt.

Uljana Tsejtlina, Georgy Guryanov und Timur Novikov während der Performance
"Das Ballett der Drei Unzertrennlichen" nach Charms, Leningrad, 1985
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(E-E) Evgenij Kozlov, vintage print, übermalt.


Die eine, die strategische des Wortes, ist die Position Timur Novikovs, 1958-2002. Novikov, Gründer und Wachstumsbeschleuniger der Neuen Künstler, kodifiziert und mystifiziert in seinen Texten aus jener Zeit die Biographie der Gruppe und erweitert sie um zahlreiche alternative Gruppenamen, Sektionen und Untersektionen. Welchen Anteil daran Novikovs Kenntnisse der Künstlergruppen der russischen bzw. sowjetischen Avantgarde hatten, ist schwer zu sagen. Jedenfalls propagierte er Larionovs und Gontcharovas Prinzip des vsiotschestvo (всечество), englisch everythingness, deutsch Alles-ismus – in etwa „alle Stile sind gleich gut“ mehr>>. Auf diese Weise persiflierte Novikov das sowjetische Kastendenken, welches nicht-offizielle Künstlergruppen wie die Neuen Künstler als Amateure stigmatisierte. Mit anderen Worten, es ging ihm darum, die herrschende Ideologie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen, indem er für die Neuen Künstler verschachtelte Konstruktionen erfand, die die existierenden Strukturen eines Künstlerverbandes nicht nur imitierten, sondern multiplizierten und damit die Größe und Bedeutung der Gruppe absurd vergrößerte. Diese typische spätsowjetische Art der Parodie heißt im Russischen „stiob“. Man könnte Novikovs Strategie aber auch „Schöpfung durch das Wort“ nennen: etwas zu benennen bedeutet, diesem etwas Existenz zu verleihen. Denn Novikovs Ziel war es, die Gruppe nicht nur fiktiv, sondern real in eine allgemeine Bewegung zu überführen.

(E-E) Evgenij Kozlov: Anna Karenina 2 Links: Gemälde, Stadium, 1988 Rechts: übermalte Fotografie der Performance des Neuen Theaters 1985

(E-E) Evgenij Kozlov: Anna Karenina 2
Links: Gemälde, Stadium, 1988
Rechts: übermalte Fotografie der Performance des Neuen Theaters 1985
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Die andere, künstlerische Herangehensweise an die Gruppe durch das Bild manifestiert sich bei (E-E) Evgeni Kozlov, geb. 1955. Kozlov ist der ideelle Transformator der Neuen Künstler, der sie in seinen Kunstwerken von der Person zur Individualität entwickelt und somit transfiguriert. Mit seiner geistigen Sicht der Menschen beschreibt er keine Wirklichkeit, sondern eine Möglichkeit, die genau deshalb nur den Schein der Wirklichkeit besitzt mehr>>.

Diese Werke basieren überwiegend auf Kozlovs eigenen Fotografien, die Teil seines umfangreichen Fotoarchivs der 1980er Jahre sind. Es handelt sich um ca. 6000 Aufnahmen, überwiegend schwarz-weiß Filme, von denen etwa 2000 die Leningrader Kunst- und Musikszene dokumentieren – und ohne die viele Ereignisse heute kaum mehr bekannt wären mehr>>.

Die Anzahl von Kozlovs übermalten Fotografien, Collagen, Grafiken, Portraits und vielfigurigen Kompositionen aus den Jahren 1984 bis 1989, die sich mit den Neuen Künstlern und Personen aus ihrem Umfeld beschäftigen, ist beeindruckend. Grundlegend war für Kozlov jeweils die Suche nach neuen Formen der Darstellung. Damit behaupten sich diese figurativen Darstellungen in ihrer  stilistischen Vielfalt ohne weiteres neben anderen von Kozlovs Werkzyklen aus den 80er Jahren, zum Beispiel dem USA-CHINA-CCCP Zyklus mehr>>. Kozlov nimmt damit nicht nur unter den Neuen Künstlern eine singuläre Stellung ein, sondern in der Kunstgeschichte zwanzigsten Jahrhunderts allgemein. Denn im Unterschied beispielsweise zu Andy Warhol vermarktete er nicht Ikonen der Pop Kultur, sondern fand seine Sujets in seinem eigenem Kosmos – in einem bestimmten Blick, einer Geste, einer Haltung der Personen, mit denen er Umgang hatte.

Sowohl Novikov als auch Kozlov machen sich also den Schein zunutze, erzeugen Scheinwirklichkeiten. Man könnte auch von Fiktionen sprechen, ich bevorzuge aber den neutraleren Begriff Scheinwirklichkeit, weil er anders als Fiktion nicht nur zum Wort, sondern auch zum Bild passt. Novikovs und Kozlovs Scheinwirklichkeiten prägten und prägen zu einem nicht geringen Teil die Rezeption der  Neuen Künstler – inhaltlich mit Novikovs frühen Texten und visuell mit Kozlovs Bildwerken aus jener Zeit, zuletzt mit der Doppelausstellung von „Notes from the Undergound“ im Muzeum Sztuki, Lodz, 2016 mehr>> und der Akademie der Künste Berlin 2018 mehr>>, kuratiert von Daniel Muzyczuk und David Crowley. 

Beim Blick auf diese artifizielle Identitätsbildung der Neuen Künstler unterscheide ich bewusst Novikovs strategisches Vorgehen von Kozlovs künstlerischem. Strategie ist ein Begriff aus der Kriegsführung, die bekannterweise ihre Ziele auch mit Täuschung und List erreicht, während Kunst – nach Nietzsche ein „metaphysischer Wunderakt“ – ihren Täuschungscharakter eben gerade offenlegt.

Anders gesagt: wer heute einen von Novikovs Texten liest, mag sich zu der Meinung verleiten lassen, dass sich alles genau so abgespielt habe. Wer Kozlovs Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen betrachtet, wird sicherlich nicht denken, dass es sich um eine realistische Darstellung Novikovs handelt, obwohl sie auf einer Fotografie beruht.

Ankündigung von Andrei Erofeevs Vortrag Avantgarde in der Kunst 1980 – 2000, 1. März 2011, Moscow Museum of Modern Art (MMOMA) Im Bild: (E-E) Evgenij Kozlov „Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen“, 1988 Sammlung Russisches Museum, Sankt Petersburg

Ankündigung von Andrei Erofeevs Vortrag
Avantgarde in der Kunst 1980 – 2000, 1. März 2011, Moscow Museum of Modern Art (MMOMA)
Im Bild: (E-E) Evgenij Kozlov „Portrait von Timur Novikov mit Knochenarmen“, 1988
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Sammlung Russisches Museum, Sankt Petersburg


Bevor ich kurz auf die Neuen Künstler eingehe, will ich noch vorauszuschicken, dass Novikovs Kunst in diesem Vortrag keine Rolle spielt. Auch Kozlovs Kunst betrachte ich nur ausschnittsweise. Dass sowohl Novikov als auch Kozlov international anerkannt sind, erkennt man daran, dass Novikov Teilnehmer der Manifesta 2014 war und Kozlov der 55. Biennale von Venedig 2013, und dass beide mit ihren Werken in der Tate Gallery und dem Centre Pompidou vertreten sind, und jeweils in zahlreichen anderen öffentlichen Sammlungen, darunter auch dem Muzeum Sztuki in Lodz.



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Uploaded 24 September 2021
Last updated 26 September 2021